Kriminologische Erhebungen unter Münsteraner Schülern

Konzeptionelle Überlegungen und organisatorische Planungen

 

Konzeptionelle Überlegungen

In den vergangenen vier bis fünf Jahren hat sich in der massenmedialen und politischen Öffentlichkeit – vermutlich auch in einem zunehmenden Teil der Bevölkerung – die Auffassung durchgesetzt, daß die Kinder- und Jugendkriminalität in bedrohlicher Weise zugenommen habe. Teilweise ist zu hören, daß Gewalthandlungen und der Drogenkonsum unter Jugendlichen, Heranwachsenden und auch bei Kindern um das Doppelte gestiegen seien. Insbesondere die Intensität gewaltsamer Handlungen sowie der Besitz und die Verwendung von Waffen unter Schülern hätten in dramatischer Weise zugenommen. Zuweilen werden in einer vorschnell wirkenden Übernahme New Yorker Erfahrungen auch schon Bagatelltaten als "Auslöserdelikte" für spätere kriminelle Karrieren angesehen.

Solche Stellungnahmen, die gelegentlich auch von Kriminologen nahegelegt wurden, entsprechen indessen nicht dem (früheren wie aktuellen) Stand kriminologischer Erkenntnisse. Sie stützen sich ganz wesentlich auf Steigerungsraten aus der polizeilichen Kriminalstatistik. Diese beruht auf der offiziellen Registrierungstätigkeit der Polizei (sogenannte Hellfelderfassung) und ist insbesondere im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität vom Anzeigeverhalten der Bevölkerung abhängig. Einige in den letzten Jahren durchgeführte Schülerbefragungen (z.B. in Bielefeld, Dresden, Essen, Hamburg, Hannover, Leipzig, Stuttgart oder im Kreis Lippe) deuten jedoch darauf hin, daß die Anzeigebereitschaft der Bevölkerung gestiegen ist. Als Gründe werden ein erhöhtes subjektives Unsicherheitsgefühl, die Zunahme interethnischer Konflikte oder die verstärkte öffentliche Thematisierung der Gewalt unter Jugendlichen und Schülern genannt. Schülerbefragungen erheben mit sogenannten Täter- und Opferbefragungen auch das Dunkelfeld abweichenden Verhaltens. Die Kriminalität unter Schülern hat demnach weit weniger zugenommen, als es die Polizeistatistik nahelegt. Zudem machen gewaltsame Handlungen (dies läßt sich seit jeher allerdings auch den Hellfeldstatistiken entnehmen) nur einen geringen Teil des abweichenden Verhaltens aus. Nach den bisherigen Befunden der kriminologischen Lebensverlaufsforschung kann man insgesamt davon ausgehen, daß abweichende Verhaltensweisen im Jugendalter weit überwiegend entwicklungstypische und vor allem episodenhafte Phänomene im Rahmen von Prozessen der Normsozialisation sind. In einem Kontext, der diese Entwicklungen sozialisationsadäquat – das heißt: pädagogisch und nicht durch vorschnelle oder intensive Formen polizeilicher und justitieller Interventionen – begleitet, ist ein Hineinreifen in konforme Strategien der Lebensbewältigung die Regel, sogenannte kriminelle Karrieren sind die Ausnahme.

Auch wenn die Entwicklung der (gewaltsamen) Jugendkriminalität mithin nicht generell als "dramatisch" bezeichnet werden kann, so enthalten die bislang unter Schülern durchgeführten Erhebungen gleichwohl deutliche Hinweise auf neuere, eher qualitative Phänomene einer gewaltsamen Intensivierung sowie Konflikt- und Verständigungsunfähigkeit. Wir vermuten, daß diese mit der Herausbildung neuer Konsum- und Freizeitstile, Wert- und Leistungsorientierungen sowie (zeitlich vorgelagert) auch mit der Veränderung familiärer Kontrollstrukturen korrespondieren. Damit im Zusammenhang werden neue Gruppenbildungen beobachtet, deren Grenzen – unter anderem im Gefolge der sozialen Umbruchsprozesse in Ost- und Südosteuropa – auch entlang ethnischer Zugehörigkeiten verlaufen können. Solche erste Formen einer für die Bundesrepublik ungewohnten Segmentierung einzelner Bevölkerungsgruppen ist im Kern allerdings sozio-kulturell geprägt und allenfalls auf der Erscheinungsebene ethnischer Natur. Längerfristig betrachtet liegt die Problematik solcher Prozesse deshalb wohl weniger in einer Zunahme fremdenfeindlicher Einstellungen und Handlungen. Diese können sich zwar in erschreckenden Formen äußern, sie sind gleichwohl ideologischer Herkunft und unterliegen daher einem schnelleren zeitlichen Wandel. Problematischer ist vielmehr, daß Segmentierungsprozesse strukturell und damit zeitlich stabiler in sich neu bildenden sozialen Zusammenhängen und Lebensstilen verwurzelt zu sein scheinen.

Im Kern wollen wir also herausarbeiten, welche (kommunikative) Bedeutung das Erleben und der Umgang mit Delinquenz und Abweichung im Prozeß der Sozialisation und Identitätsbildung vor dem Hintergrund der aktuellen sozialen und jugendkulturellen Entwicklungen für die Schülerinnen und Schüler einnimmt. Eine singularisierende Betrachtung "der" Jugendkriminalität (oder "Ausländerkriminalität") ist nicht das Anliegen dieser Untersuchung.

Die Schule als der für heranwachsende Jugendliche primäre Sozialisationsraum ist den geschilderten Entwicklungen und den daraus erwachsenden Konflikten in besonderer Weise ausgesetzt. Sie ist deshalb auch (im zuvor beschriebenen pädagogischen Sinne) der primäre Präventionsraum. Diesen beiden eng miteinander verbundenen Aspekten kann nur im Rahmen einer Schülerbefragung Rechnung getragen werden. Auf der Grundlage einer differenzierten Strukturanalyse der neueren Problemlinien könnten in der Praxis geeignete Formen des Umgangs mit anderen Kulturen, Konflikten und Gewalt entwickelt werden. Es ist zudem geplant, die Studie in Teilen als wiederholte Erhebung durchzuführen. Damit könnten, neben einer angemessenen Beurteilung sozio-kultureller Veränderungen, in der Zwischenzeit eingerichtete Schulprogramme auf deren Akzeptanz und Effekte hin überprüft werden. Die kriminologische Forschung bietet derzeit weder hinsichtlich der skizzierten strukturellen Ausdifferenzierungsprozesse noch im Hinblick auf durchgeführte praktische Schulprogramme eine empirisch hinreichend fundierte Erkenntnisgrundlage (unter anderem deshalb nicht, weil die meisten Befragungen nur zu einem Zeitpunkt und nur mit Schülern der 9. Klassen durchgeführt wurden).

Die Schülerbefragung ist als repräsentative Erhebung mit einem schriftlichen Fragebogen geplant. Im wesentlichen sollen die folgenden Bereiche erhoben werden: Lebens-, Freizeit- und Konsumstile, Wertorientierungen, soziale und politische Einstellungen, Berufs- und Zukunftsorientierungen, soziale Kontakte; familiäre Leistungserwartungen, Probleme und Konflikte; Kriminalitätsfurcht, Vermeide- und Schutzverhalten; Täter- und Opfererfahrungen; Einstellungen zur Schule als Leistungs- und Lebensraum und zu schulischen Präventionsprojekten; Umgang mit Konflikten; Einschätzung von Verfolgungsrisiken und Sanktionsdrohungen; Einstellungen zu Polizei und Justiz; Wahrnehmung von sozialen Problemen des eigenen Wohngebiets (siehe Muster Fragebogen in der Anlage).

 

Vergleichbarkeit der Befunde

Um die gewonnenen Befunde angemessen interpretieren zu können, das heißt insbesondere: um zu vermeiden, daß singuläre Ereignisse (sog. "Ausreißer") in der Auswertung als "generalisierbare Resultate" erscheinen, werden die Analysen der Schülerbefragung in einem vergleichenden Kontext mit früheren und gegenwärtigen, inländischen wie ausländischen Studien erfolgen. Vor allem deshalb wird zu einem erheblichen Teil auf bereits erprobte Erhebungsinstrumente zurückgegriffen.

 

Forschungsgruppe

Die Befragung wird von der Abteilung Kriminologie am Kriminalwissenschaftlichen Institut der Universität Münster durchgeführt. Die Forschungsgruppe verfügt über langjährige, auch internationale Erfahrungen in der quantitativen wie qualitativen Forschung zur Jugenddelinquenz im Lebensverlauf, zur Opferwerdung, zu sozio-kulturellen Kriminalitätsfaktoren, zu subjektiven Kriminalitätseinstellungen und zur Kriminalprävention.

 

Datenschutz

Die Erhebung der Daten, die Datenhaltung, die Auswertungen und Veröffentlichungen der Befunde erfolgen ausschließlich durch die Abteilung Kriminologie; Dritte können auf die Forschungen universitärer Einrichtungen keinen Einfluß nehmen. Die Teilnahme der Schülerinnen und Schüler an der Befragung ist freiwillig. Die Daten der Schüler werden in anonymisierter Form erhoben. Die Namen der Schüler werden nicht erfaßt. Ein Bezug der erhobenen Antworten zur befragten Person kann nicht hergestellt werden. Im Falle wiederholt durchzuführender Befragungen werden die Probanden gebeten, einen Code zu erstellen, der nur durch sie selbst identifizierbar ist und der kryptographisch verschlüsselt wird. Auch die Namen der Schulen werden anonymisiert und somit Dritten nicht zugänglich sein.

Die Landesbeauftragte für den Datenschutz des Landes Nordrhein-Westfalen wurde über die Einzelheiten der Erhebung informiert. Nach dortiger Auffassung können Schülerinnen und Schüler der 9. und 11. Klassen selbständig über ihre Befragungsteilnahme entscheiden. Eine Einwilligung der Erziehungsberechtigten ist aus datenschutzrechtlicher Sicht nur für die zu befragenden Siebtklässler erforderlich.

 

Veröffentlichungen

Die wissenschaftlichen Befunde werden in einer öffentlichen Veranstaltung vorgestellt und den beteiligten Schulen in Form eines Ergebnisberichts zugesandt. Auf Wunsch wird die Forschungsgruppe die Ergebnisse auch in den Schulen präsentieren und im Hinblick auf zu ziehende praktische Folgerungen diskutieren.

 

Befragungszeitraum

In Absprache mit den Sprecherinnen und Sprechern der Schulleiterinnen und Schulleiter soll die Befragung in der Zeit vom 20. Januar bis 11. Februar 2000, also unmittelbar vor und nach der Ausgabe der Halbsjahreszeugnisse, stattfinden. Pro Schule werden im Durchschnitt vier Klassen ausgewählt, so daß die Erhebungen an einem Vormittag durchgeführt werden können.

 

 

 

Befragungsdauer

Die Befragungsdauer wird (wie in bislang durchgeführten Erhebungen) maximal zwei Schulstunden betragen.

 

Stichproben

Es werden repräsentative Zufallsstichproben aus den 9. und 11. Klassen (Auswahleinheit) der Münsteraner Haupt-, Real-, Sonder- und Berufsschulen sowie Gymnasien gezogen. Die 7. Klassen sollen, um für eine wiederholte Befragung eine ausreichend große Ausgangsstichprobe zu erhalten, vollständig erhoben werden.

 

Stichprobengrößen und Befragungshäufigkeit bei einem Wiederholungszeitpunkt von 12 Monaten (in Klammern: vermutete Ausfallquote):

 

Klassenstufe

1. Befragung 10/1999

2. Befragung 10/2000

3. Befragung 10/2001

7

2.500

1.400 (30%)

1.150 (25%)

9

700

11

700

Summe

3.900

1.400

1.150

Die Erhebung aller drei Klassenstufen zum ersten Befragungszeitpunkt ermöglicht einen gleichzeitigen Einblick in ein größeres Alterssprektrum. Die wiederholten Befragungen dienen den oben dargestellten inhaltlichen Zielen.

 

Geplanter organisatorischer Ablauf der Erhebung

Nach erteilter Zustimmung durch die Schulleiterin bzw. den Schulleiter werden in Absprache mit der jeweiligen Schulverwaltung die Klassenlehrerinnen oder Klassenlehrer der ausgewählten Klassen mit der Bitte angeschrieben, uns einen passenden Termin für die Erhebung zu nennen. Diesem Schreiben werden für die 7. Klassen vorgedruckte Einwilligungsschreiben nebst einer Erläuterung des Forschungsvorhabens für die Erziehungsberechtigten beigelegt.

Sodann werden nach Mitteilung eines Befragungstermins von der Forschergruppe eigens geschulte studentische Interviewer in die Klassen gehen und die Fragebögen an die Schüler, die teilnehmen wollen (bzw. an die Siebtklässler für die zusätzlich eine Einwilligung der Erziehungsberechtigten vorliegt), verteilen. Die Bögen müssen selbständig ausgefüllt werden. Die Interviewer werden nur Erläuterungen zum organisatorischen Ablauf geben und diesbezügliche Rückfragen beantworten. Die ausgefüllten Fragebögen werden den Interviewern in einem verschlossenen Umschlag übergeben.