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Juristische Fakultät - Institut für Kriminologie
Tübingen, den 28. September 1995
Pressemitteilung

Rückgang der Kriminalitätsfurcht

Weitere Angleichung zwischen Ost und West bei leichter Zunahme der Eigentumskriminalität

Kriminologen der Universität Tübingen haben aufgrund von bundesweiten Opferbefragungen festgestellt, daß die Dunkelfeldkriminalität zwischen 1991 und 1995 insgesamt nicht gravierend zugenommen hat. Die Kriminalitätsfurcht ist in den letzten beiden Jahren vor allem in den neuen Bundesländern zurückgegangen. Nach der Wende war sie dort stark angestiegen.

Zusammenfassung

Bedingt durch den sozialen Umbruch sowie eine enorme Steigerung der Tatgelegenheiten war nach der Wende vor allem in Ostdeutschland eine erhebliche Kriminalitätszunahme beobachtet worden. Seit 1991 liegen die neuen und alten Bundesländer im wesentlichen unverändert auf einem ziemlich einheitlichen Niveau. In den letzten eineinhalb Jahren wurden bundesweit 25% der Bevölkerung Opfer eines Eigentumsdeliktes, aber nur 5% waren von Körperverletzung oder Raub betroffen. In diesen Zahlen sind im Gegensatz zur Polizeistatistik auch nicht angezeigte Straftaten enthalten (sog. Dunkelfeld). Die Polizei hat vor kurzem aufgrund ihrer Statistik der angezeigten Straftaten (sog. Hellfeld) sogar einen Kriminalitätsrückgang festgestellt. Die Kriminalitätsfurcht ist nach der Wende vor allem in Ostdeutschland angestiegen. 1991 war sie dort doppelt so hoch wie im Westen und ist jetzt, nachdem sie bis 1993 nicht weiter zugenommen hatte, etwa auf das Westniveau zurückgegangen. In Westdeutschland liegt die Kriminalitätsfurcht heute etwa so hoch wie Mitte der 80er Jahre; Ende der 80er war es zu einem starken Rückgang gekommen. Im Sommer 1995 waren im Osten rund 15% und im Westen rund 11% der Großstadtbewohner sehr beunruhigt, Opfer einer Gewalttat werden zu können. Bis zu 20% der ostdeutschen und 13% der westdeutschen Frauen zeigten sich wegen möglicher sexueller Angriffe sehr verunsichert. In kleineren Städten und Gemeinden ist die Kriminalitätsfurcht allgemein geringer. Zumindest mit Blick auf Kriminalitätsprobleme zeichnet sich somit fünf Jahre nach der Wiedervereinigung eine weitgehende Angleichung zwischen Ost- und Westdeutschland ab.

Die Forscher stützen ihre Ergebnisse auf drei Umfragen: 1991 waren 2.000, 1993 4.000 und 1995 3.000 repräsentativ ausgewählte Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit jeweils im Sommer befragt worden. Die Erhebungen erfolgten mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen von Untersuchungen über den sozialen Umbruch und die Kriminalitätsentwicklung in Deutschland. Die Feldbefragungen wurden im Auftrag der Forscher von den Meinungsforschungsinstituten GETAS und ZUMA durchgeführt.

Kriminalitätsentwicklung

Wenn man das offizielle Kriminalitätsbild betrachtet, wie es sich im wesentlichen aufgrund von Anzeigen aus der Polizeilichen Kriminalstatistik ergibt, dann ist in Westdeutschland die Kriminalität nach dem Fall der Mauer, also zwischen 1990 und 1993 angestiegen und 1994, vor allem aufgrund eines Rückgangs bei den nichtdeutschen Tätern, zurückgegangen. In Ostdeutschland ist die Polizeistatistik wegen der Umorganisation des polizeilichen Meldesystems erst ab 1993 verläßlich. Danach lagen in den Jahren 1993 und 1994 die Raten für schweren Diebstahl (dazu zählen vor allem der Fahrraddiebstahl und Autoaufbruch) und Raub in Ostdeutschland etwas höher, die übrige Gewaltkriminalität jedoch niedriger als im Westen.

Insgesamt dominieren in der polizeilichen Kriminalstatistik mit knapp 80% die Eigentums- und Vermögensdelikte, vor allem der Diebstahl von Autoteilen, Laden- und Fahrraddiebstahl. Gewaltdelikte machten (leichte Körperverletzung nicht mitgerechnet) nur 2,4% der gesamten registrierten Kriminalität aus.

In repräsentativen Opferbefragungen berichteten Bevölkerungsangehörige, wie oft sie in einem bestimmten Zeitraum Opfer einer Straftat wurden. Dabei werden auch Taten erfaßt, die der Polizei nicht bekannt werden und deshalb zum sog. Dunkelfeld gehören. Umgekehrt fallen bei persönlichen Opferbefragungen allerdings solche Delikte unter den Tisch, die sich gegen Firmen, Institutionen oder die Allgemeinheit richten. Dazu zählen z.B. der Ladendiebstahl, die Wirtschaftskriminalität oder die Korruption.

Man kann also die Polizeiliche Kriminalstatistik und Opferbefragungen nicht in allen Aspekten unmittelbar vergleichen, sondern muß genau auf die Auswahl der Delikte achten. Deswegen haben sich die Forscher auf die Eigentums- und Gewaltkriminalität konzentriert.

Nach Opferbefragungen hatte in Ostdeutschland die Eigentums- und Gewaltkriminalität nach der Wende im November 1989 erheblich zugenommen und bereits im Frühjahr 1991 das gleiche Niveau wie im Westen erreicht. Bis 1993 blieben die Opferraten in Ost- und Westdeutschland weitgehend stabil. Zwischen 1993 und 1995 sind in beiden Landesteilen insgesamt geringfügige Steigerungen im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte (v.a. Diebstahl am/aus dem Auto; Autosachbeschädigung,) sowie bei Bedrohung und sexueller Belästigung zu beobachten. Bei Raub- und Körperverletzung gab es keine relevanten Veränderungen; Wohnungseinbruch wurde 1995 im Westen häufiger als 1993 berichtet (siehe Tabelle: Opferraten).

Insgesamt waren im Sommer 1995 34% Ostdeutsche und 31% Westdeutsche in den vorangegangenen 18 Monaten Opfer einer Straftat geworden; 23% bzw. 21% waren von Eigentumsdelikten betroffen. Am häufigsten wurden Autosachbeschädigung, Fahrraddiebstahl, Betrug, Bedrohung (ohne Tätlichkeiten) und sexuelle Belästigung genannt.

Die Opferraten für schwere Straftaten fielen wesentlich geringer aus: je rund 2% der Befragten berichteten, Opfer von Wohnungseinbruch, Körperverletzung (in der Mehrzahl ohne Waffen) oder Raub (einschl. Entreißen von Handtaschen) geworden zu sein. Weniger als 1% der befragten Frauen waren Opfer einer sexuellen Nötigung oder Vergewaltigung geworden.

Kriminalitätsfurcht

Die Kriminalitätsfurcht wurde anhand der Frage bestimmt, inwieweit man darüber beunruhigt ist, abends im eigenen Wohnviertel Opfer von Gewalt- oder Sexualtaten oder Wohnungseinbruch zu werden. Es geht also um die persönliche Betroffenheit im sozialen Nahbereich.

Die Kriminalitätsfurcht hatte nach der Wende bis zum Frühjahr 1991 vor allem in Ostdeutschland erheblich zugenommen und war teilweise doppelt so hoch wie im Westen. Sie ist dort zwischen 1991 und 1993 insgesamt nicht mehr angestiegen und im Sommer 1995 in Richtung auf das Westniveau zurückgegangen (siehe Schaubilder: Kriminalitätsfurcht in Großstädten). Gegenüber der anfänglich großen, im wesentlichen umbruchsbedingten Verunsicherung - wozu auch die bis dahin ungewohnte Kriminalitätsberichterstattung in den Massenmedien beigetragen haben mag - kommen nun, über 5 Jahre nach der Wende, ersichtlich Relativierungs- und Anpassungsprozesse zum Tragen.

Der anfängliche Anstieg der Kriminalitätsfurcht war vor allem in ostdeutschen Großstädten erfolgt. Dort haben sich zwischenzeitlich unterschiedliche Entwicklungen ergeben: Während die Kriminalitätsfurcht 1991 vor allem in den ostdeutschen Metropolen Ostberlin, Leipzig und Dresden zugenommen hatte, war sie dort 1993 zurückgegangen und hat sich dann bis 1995 nicht mehr verändert. Demgegenüber ist es zwischen 1991 und 1993 in den kleineren ostdeutschen Großstädten mit bis zu 500.000 Einwohnern zu einer erheblichen Zunahme gekommen; die Furchtraten sind inzwischen auch hier zurückgegangen, liegen aber 1995 immer noch höher als in den Metropolen.

In Westdeutschland hatte sich die Kriminalitätsfurcht am Ende der 80er Jahre erheblich verringert. 1993 wurde dann wieder das höhere Niveau von Mitte der achtziger Jahre erreicht. Bis zum Sommer 1995 haben sich im wesentlichen keine Änderungen mehr ergeben.

Die Kriminalitätsfurcht ist allgemein in Großstädten höher als in kleineren Städten und Gemeinden (mit der besagten Ausnahme, daß in Ostdeutschland in den Metropolen die Furchtraten geringer sind als in den kleineren Großstädten).

Bei Gewaltdelikten stellen die größte Opfergruppe junge Männer, die auf der anderen Seite am häufigsten auch zu den Tätern gehören. Sie äußern jedoch die geringste Kriminalitätsfurcht. Frauen sind in Ost- wie Westdeutschland rund zweimal mehr als Männer über Raub, Körperverletzung oder Wohnungseinbruch verunsichert. Zumal ältere Frauen sind sehr beunruhigt, obwohl sie am seltensten Opfer solcher Delikte werden. Bei Sexualdelikten äußern allerdings diejenigen die größte Furcht, die davon auch am häufigsten betroffen werden: junge Frauen.

Sich vor der Kriminalität zu fürchten muß nicht bedeuten, daß man auch tatsächlich damit rechnet, Opfer einer Straftat zu werden. Denn sowohl das konkrete Opferrisiko als auch die Risikoeinschätzung der Befragten sind erheblich niedriger als die geäußerte Kriminalitätsfurcht.

Im Sommer 1995 waren durchschnittlich 15% der ostdeutschen und 11% der westdeutschen Großstadtbewohner sehr beunruhigt, daß sie persönlich abends in ihrem Wohnviertel Opfer einer Bedrohung, Körperverletzung, eines Raubes oder Wohnungseinbruchs werden könnten (40% bzw. 25% waren ziemlich beunruhigt). Landesweit waren durchschnittlich 11% im Osten und 7% im Westen wegen dieser Delikte sehr beunruhigt (30% Ost und 19% West ziemlich beunruhigt). Im Westen wie Osten hielten es nur maximal bis zu 8% der Großstädter für sehr wahrscheinlich, daß ihnen so etwas tatsächlich passieren könnte.

Von den in Großstädten befragten Frauen waren 20% im Osten (landesweit 12%) sowie 13% im Westen (landesweit: 9%) über eine Vergewaltigung sehr beunruhigt (25% Ost und 19% West waren ziemlich beunruhigt). Daß sie tatsächlich vergewaltigt werden könnten, hielten in Ost- und Westdeutschland nur je rd. 5% der Frauen für sehr wahrscheinlich (rd. 15% für ziemlich wahrscheinlich).

Beunruhigung über soziale und politische Probleme

Die Beunruhigung über die Entwicklung im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich war, wie schon 1991 und 1993, auch 1995 weit stärker ausgeprägt als die auf die eigene Person und das Wohnviertel bezogene Kriminalitätsfurcht. Dies gilt auch für Kriminalitätsphänomene, die nicht als persönliche Bedrohung, sondern vielmehr als staatliches oder gesellschaftliches Problem angesehen werden, wie z.B. die organisierte Kriminalität, die Korruption oder die allgemeine Kriminalitätsentwicklung.

Im Sommer 1995 waren im Osten wie im Westen die Befragten am stärksten über die Organisierte Kriminalität, im Osten zusätzlich über die Arbeitslosigkeit beunruhigt (je rd. 60% sehr beunruhigt). Sodann gaben in Ostdeutschland "Aggressivität und Gewalt in der Gesellschaft", die allgemeine Kriminalitätsentwicklung sowie der Rechtsextremismus Anlaß zur Beunruhigung (44% bis 55% sehr beunruhigt); in Westdeutschland folgten Umweltprobleme, Aggressivität und Gewalt sowie der Rechtsradikalismus (37% -44% sehr beunruhigt). Insgesamt ist zwischen 1993 und 1995 die Beunruhigung über soziale Probleme in den neuen Bundesländern leicht zurückgegangen, während im Westen hinsichtlich der Umweltprobleme und der Arbeitslosigkeit eine Zunahme zu verzeichnen ist. Generell waren ostdeutsche Befragte über soziale Probleme stärker als westdeutsche beunruhigt (siehe Tabelle: Beunruhigung über soziale Probleme).

Die Untersuchungen erstrecken sich noch auf weitere Bereiche: Bewältigung des sozialen Umbruchs; autoritäre und fremdenfeindliche Einstellungen; Fähigkeiten mit gewaltsamen Situationen umzugehen; Wahrnehmung sozialer Desorganisation im Wohnviertel; Veränderungen in den familiären und sozialen Netzwerken.

Dr. Klaus Boers
Prof. Dr. Hans-Jürgen Kerner
Peter Kurz, M.A.


Weitere Auskünfte erteilen:

Prof. Dr. Hans-Jürgen Kerner: 07071-297 2931
E-Mail: hans-juergen.kerner@uni-tuebingen.de
Peter Kurz: 0251-83 22370
E-Mail: peter.kurz@uni-muenster.de
Prof. Dr. Klaus Boers: 0251-83 22749
E-Mail: boers@uni-muenster.de

Tabellen

Tabelle: Beunruhigung über soziale Probleme 1991, 1993 und 1995
Alte und Neue Bundesländer
(in Prozent, sehr beunruhigt)
Ost 1991 Ost 1993 Ost 1995 West 1993 West 1995
Arbeitslosigkeit 54,3 60,7 59,8 25,3 33,6
Verbleib von ehem. SED - Leuten 45,1 20,9 17,6 23,6 15,4
Aggressivität und Gewalt 43,7 61,3 56,1 50,8 38,1
Zustand der Umwelt 43,9 43,1 38,3 35,2 43,5
pol. Rechtsradikalismus 32,7 56,3 43,7 59,3 36,6
pol. Linksradikalismus - 27,6 22,6 28,6 18,1
sozialer Abstieg 30,6 37,6 27,2 15,5 13,2
Rentenversicherung 24,1 29,5 19,9 26,8 25,1
Kriminalitätsentwicklung - 65,4 55,2 42,7 35,3
Organisierte Kriminalität - 66,1 61,6 48,5 46,7
Bestechung - 47,1 35,1 35,3 26,9
Verlust der Wohnung 19,4 27,5 23,7 14,6 13,6
Zuzug von Asylbewerbern 14,1 19,1 14,1 30,3 21,0
Verlust von Familienbindung 10,8 18,2 17,7 15,4 17,2
Ungleichheit von Männern und Frauen 8,6 18,6 10,1 7,3 5,9
  n=2011 n=2212 n=1095 n=2035 n=2114
Fett = statistisch bedeutsame Veränderungen gegenüber letzter Befragung

Tabelle: Opferprävalenzraten Neue und Alte Bundesländer 1991, 1993 und 1995. Referenzperiode letzte 18 Monate.
Werte in Prozent Ost 1991 Ost 1993 Ost 1995 West 1993 West 1995
Gesamtprävalenz 27,9 25,4 33,6 22,8 31,0
Eigentumsdelikte 18,8 19,1 23,3 16,3 20,7
Kfz-Diebstahl* 0,8 2,0 2,1 1,0 1,0
Autoteilediebstahl* 5,6 6,2 10,4 5,2 5,4
Autovandalismus* 10,2 10,4 13,7 8,1 10,5
Zweiraddiebstahl* 2,65 4,2 3,5 4,1 2,1
Fahrraddiebstahl* 9,2 8,1 9,3 7,7 8,7
Sonst. Diebstahl 3,0 2,4 4,8 4,8 4,4
Betrug*** 10,2 4,6 7 3,6 5,4
Wohnungseinbruch 1,9 1,8 1,7 1,3 2,4
Raub 1,0 1,7 2,3 1,3 1,3
Handtaschendiebst. 1,7 1,6 1,8 1,3 2,1
KV ohne Waffe 1,6 1,4 2,0 1,6 1,7
KV mit Waffe 0,5 0,6 0,5 0,3 0,2
Bedrohung 4,9 4,7 9,0 4,9 6,5
Sexuelle Belästigung** 8,7 3,8 5,9 4,7 7,1
Vergewaltigung** 0,3 0,1 0,1 0,1 0,1
Sex. Mißbrauch** 0,6 0,8 0,9 0,1 0,5
Mietangelegenheit - 0,8 0,8 1,1 1,0
Rückgabeangel. - 0,8 0,8 - -
Übervorteilung - 4,0 5,4 2,1 3,7
  n=2011 n=2212 n=1095 n=2034 n=2114
* Befragt nur bei Besitzern von Fahrrädern und KfZ
** Befragt nur bei Frauen
*** Die Unterschiede zwischen 1991 und 1993/95 sind möglicherweise auf die veränderte Fragestellung zurückzuführen. 1993 und 1995 wurde eine eingeschränktere Betrugsdefinition gewählt.
Fett = statistisch bedeutsame Veränderungen gegenüber letzter Befragung

Grafiken

Diagramm: Kriminalitätsfurcht und Risikoeinschätzung in Städten größer 100.000 Einwohner. (Ostdeutschland 1991, 1993 und 1995)


Diagramm: Kriminalitätsfurcht und Risikoeinschätzung in Städten größer 100.000 Einwohner. (Westdeutschland 1993 und 1995)

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Peter Kurz
- Stand 15. Dezember 1995 -
peter.kurz@uni-muenster.de